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Als das Reiskorn auf die Krawatte fiel, beschloß Agathe, sich scheiden zu lassen.

Fasziniert und angewidert zugleich hatte sie beobachtet, wie sich das widerspenstige kleine Ding Rüdiger widersetzte, indem es lautlos und unbemerkt von der Gabel glitt und Zuflucht in seinem gepflegten Oberlippenbärtchen suchte. Nach einem kurzen Aufenthalt an einer meerblauen Stoffserviette tauchte es im rechten Mundwinkel wieder auf, wo es sich förmlich festzuklammern schien, bis es von einer achtlosen Handbewegung zum Kinn befördert wurde.

Agathe wurde leicht übel.

Sie versuchte, sich auf ihr Essen zu konzentrieren, doch das war gar nicht so einfach, wenn dem Gegenüber ein bleiches, weichgekochtes Reiskorn am Kinn hing.
Nun hätte sie - natürlich diskret, damit die Leute am Nebentisch nichts mitbekamen - sagen können: "Du hast da was am Kinn!", womit die Angelegenheit erledigt gewesen wäre. Normalerweise hätte sie das auch getan.
Aber jetzt brachte sie die Worte nicht über die Lippen. Wieso merkte er denn nicht selbst, daß ihm Essen am Kinn hing? Ausgerechnet ihm, der personifizierten Perfektion, passierte so etwas. Dem Prachtkerl, der alles konnte und wußte - vor allem immer besser wußte -, und alles und jeden im Griff hatte.
Nur dieses Reiskorn nicht.
Es klebte an seinem Kinn, und Agathe fand, daß er nun gar nicht mehr perfekt aussah. Eher schrecklich lächerlich, und ein wenig unappetitlich. Wäre ihr das passiert, er hätte nicht gezögert, ihr zuzuflüstern: "Agathe, du kleines Ferkel!"
Lächelnd, doch mit vorwurfsvollem Tadel in der Stimme. Bitterer Ernst, gekleidet in einen Scherz.
In diesem Moment bezweifelte sie zum ersten Mal, seit sie Rüdiger kannte, dessen Kompetenz und Überlegenheit. Was so ein verirrtes Reiskorn doch ausmachen kann, dachte Agathe erstaunt und spießte ein winziges Stückchen rotes Fleisch mit der Gabel auf.
Sie hätte sich gerne einen satten Brocken von einem knusprig - braunen Stück Steak abgeschnitten, aber Rüdiger mochte sein Fleisch mehr oder weniger roh - englisch nannte er das -, und da er immer, wenn sie auswärts aßen, einfachheitshalber gleich für Agathe mitbestellte, kam sie relativ häufig in den Genuß einer für sie recht zweifelhaften Delikatesse. Um enervierenden Belehrungen darüber, wie ein Gourmet sich ernährte, zu entgehen, enthielt sich Agathe jeglichen Kommentars über Rüdigers Bevormundung und hakte die Sache unter "mitgefangen - mitgehangen" ab.
Natürlich hatte Agathe im Restaurant zunächst die freie Auswahl. "Nun such dir mal was Leckeres aus, Mäusi", sagte Rüdiger stets, nachdem sie Platz genommen hatten. Daß sie nichts mehr haßte als die Bezeichnung "Mäusi", wußte Rüdiger seit Anbeginn ihrer Ehe, doch er ignorierte es einfach, und im Lauf der Jahre fand Agathe sich mit diesem Kosenamen ab. Manchmal war sie sogar froh darüber, Rüdigers Mäusi zu sein. Schließlich gab es ja noch Schlimmeres. Er hatte nämlich ein untrügliches Gespür dafür entwickelt, wenn sie ein oder zwei Kilos mehr auf die Waage brachte. Agathe war schlank, und niemandem fielen zwei, drei zusätzliche Pfunde ins Auge.
Niemandem außer Rüdiger.
Er schien die kleinste Gewichtszunahme zu riechen und kommentierte sie gnadenlos mit einem liebevollen "Dickerchen", oder "mein süßes, kleines Pummelchen". Nicht nur, wenn sie unter sich waren. Auch im Kreis lieber Verwandter, Freunde oder auch nur weitläufiger Bekannter. Da war sie schon lieber sein Mäusi. Dann wußte sie wenigstens, dass er mit ihrer Figur zufrieden war. Was nicht bedeutete, dass sie essen konnte, was ihr schmeckte. Sein Nun-such-dir-mal-was-Leckeres-aus-Mäusi war nämlich nicht ernst gemeint. Rüdiger hatte eng begrenzte Vorstellungen davon, was lecker war, und leider war er der Meinung, dass Agathe sich bei der Essenswahl ein wenig tollpatschig anstellte und man ihr deshalb unbedingt auf die Sprünge helfen mußte, indem man ihr sagte, was bestellt wurde und was nicht. Beispielsweise kamen Gerichte, die Hackfleisch enthielten, nicht in Frage, selbst dann nicht, wenn sie sich auf der Karte hinter einem französischen Namen verbargen und in raffinierten Kreationen serviert wurden. Aber Rüdiger konnte Französisch und wußte genau, welche Speisen Hackfleisch enthielten.
"Igitt! So was willst du essen, Mäusi? Da hast du doch gar keine Ahnung, was alles drin ist! Fett und Knorpel, und außerdem - wer weiß, wer da herumgeknetet hat! Vielleicht war der Typ grade vorher auf der Toilette und hat sich seine Hände nicht gewaschen?"
Merkwürdigerweise schreckte Agathe die Vorstellung, ein Koch könnte mit seinen Toiletten-Händen Hackfleisch geknetet haben, nicht sonderlich. Schließlich wurde das Fleisch ja gegart, was eventuelle Bazillen oder Bakterien oder was auch immer sicherlich zu Tode brachte. Trotzdem nahm Agathe in Anwesenheit ihres Gatten lieber Abstand von ihrem Leibgericht Hackfleisch und verkniff es sich darüber hinaus, ihn darauf hinzuweisen, dass die Hände des Bäckers, der ihm frische Semmeln in die Tüte packte, auch dann und wann eine Toilette von innen sahen. Dafür biß sie, wenn Rüdiger nicht dabei war, hin und wieder herzhaft in einen doppelstöckigen Hamburger und verschluckte gierig das gut gewürzte Fleisch samt Fett und Bakterien und eventuellen Urinspuren, die den Bratvorgang überstanden haben mochten, was Agathe jedoch für eher unwahrscheinlich hielt.
Allerdings war der Genuß nicht vollkommen, weil sie bei einer solchen Entgleisung jedesmal das schlechte Gewissen plagte.
Natürlich hatte sich ihr bei derlei Heimlichkeiten schon manchmal die Frage aufgedrängt, ob sie ein so entwürdigendes Verhalten wirklich nötig hatte. Aber allein bei dem Gedanken, Rüdiger ein munteres: "Ich geh` jetzt einen Hamburger essen!" zuzuwerfen, überkam sie ein ungutes Kribbeln in der Magengegend. Das brachte sie einfach nicht übers Herz. Es wäre nicht fair gewesen. Schließlich tat er ja so viel für sie. Tag für Tag plagte er sich ab, um ihr das Leben in einem großen, schönen Haus zu ermöglichen, mit einem riesigen Garten und einem Komfort, der für viele andere unerreichbar war. Wenn ihre Freundinnen arbeiteten, fuhr sie im eigenen Cabrio zu ihren Tennisstunden, während die Zugehfrau das Haus auf Vordermann brachte und sich der Gärtner den Rücken krumm schuftete, damit sie sich nach dem Sport zwischen gepflegten Blumenbeeten sonnen konnte. Dafür stand Rüdiger Sommer wie Winter jeden Morgen um sechs Uhr auf und kam erst abends gegen neunzehn Uhr völlig ausgelaugt zurück. Und bei so viel selbstlosem Einsatz für das Glück seiner geliebten Ehefrau konnte er doch erwarten, dass dieselbe sich an ein paar einfache Regeln hielt, die er aufgestellt hatte.
Das sah Agathe auch ein.
Sie zog nur an, was Rüdiger gefiel, aß, was er aß, trank, was er trank, und wenn Entscheidungen zu treffen waren und er sie um Rat fragte - was er natürlich tat; schließlich lag ihm nichts ferner, als ihr seinen Willen aufzudrängen -, schloß Agathe sich selbstverständlich seiner Meinung an. Schließlich war er ein erfahrener Mann, der sich in allen Lebenslagen bestens auskannte - behauptete er jedenfalls -, wohingegen sie lediglich unter "mein süßes Dummerchen" firmierte, wenn sie es wagte, eigene Ansichten zu äußern. Stimmte sie ihm jedoch zu und tat, was von ihr erwartet wurde, war sie für ihn eine kluge, aufgeschlossene Frau, mit der man sich überall sehen lassen konnte, kurzum - ein absoluter Glücksgriff.
Solches Lob gefiel Agathe, weshalb sie sich redlich bemühte, alles richtig zu machen.
Anfangs, als sie frisch verheiratet waren, hatte Agathe freilich schon manchmal vergessen, welch grandioser Gefährte ihr zur Seite stand, und es bedurfte diesbezüglich mehrmals kleiner Erinnerungen Rüdigers.
"Du weißt hoffentlich, wie sehr ich dich liebe, und daß ich mich aus diesem Grund für dein Glück aufopfere, Mäusi?" hatte ihr Mann sie mit hochgezogenen Augenbrauen und leiser Mißbilligung in der Stimme gefragt, wenn sich ein Hauch von Unzufriedenheit auf ihrem Gesicht zu zeigen wagte.
"Dir bleibt doch nicht verborgen, dass ich Tag und Nacht rackere, damit es dir an nichts fehlt, oder?"
Wenn Agathe nach diesen eindringlichen Worten immer noch ein wenig skeptisch und vielleicht sogar aufmüpfig dreinsah und sich gar zu erwähnen anmaßte, dass sie eigentlich ganz gerne arbeiten und ihr eigenes Geld verdienen würde - wenigstens zeitweise -, folgte unweigerlich das i-Tüpfelchen: "Mäusi, um Himmels willen, was redest du da!"
Mit seinem entsetzten Blick hätte Rüdiger Agathes Meinung nach in einem Horrorfilm Karriere machen können. Die weit aufgerissenen Augen des Todgeweihten, eine Sekunde, bevor der Mörder mit der Kettensäge zuschlägt.
"Ich hab` gedacht, mein kleines Frauchen liebt mich und will ganz für mich da sein und mich verwöhnen!" Der Blick wechselte von schockiert nach tadelnd. "Kann es sein, dass ich mich da getäuscht habe?" Und dann kam Rüdigers Lieblingsspruch, ein Satz, den Agathe noch mehr haßte als das idiotische "Mäusi", bei dem jedesmal, wenn sie es hörte, vor ihrem inneren Auge ein spitzschnäuziges Nagetier erstand, das in der Falle sein Leben durch Genickbruch aushauchte.
"Du willst doch nicht, dass ich eines Tages sagen muss, du seist der größte Irrtum meines Lebens gewesen und hättest mich unglücklich gemacht?" Rüdiger sprach betont langsam, und jedes seiner Worte klang wie ein Peitschenschlag und drang Agathe buchstäblich durch Mark und Bein. Sie war von klein auf ein anpassungsfähiger, harmoniesüchtiger Mensch gewesen, der stets versuchte, nirgends anzuecken. Die Vorstellung, jemandes "größter Irrtum seines Lebens" zu sein, machte sie fertig. Natürlich wollte sie nicht, dass Rüdiger ihretwegen unglücklich war. Erstens sorgte er gut für sie, was sie ihm hoch anrechnete, weil so etwas nicht unbedingt selbstverständlich war, wie sie in ihrem Bekanntenkreis immer wieder erfahren mußte.
Und zweitens liebte sie ihn.
Ja, das war schon merkwürdig, und manchmal zweifelte Agathe deswegen beinahe ein wenig an ihrem Verstand. Schließlich war Rüdiger ein Mann, der nicht einmal ansatzweise den Versuch machte, liebenswert zu sein. Ganz im Gegenteil. Es gab Augenblicke, in denen sie den Eindruck hatte, ersticken zu müssen, weil er ihr die Luft zum Atmen nahm. Er forderte nämlich rund um die Uhr ihre Aufmerksamkeit. War er unterwegs, dann rief er sie drei- oder viermal pro Tag an, um sich zu erkundigen, was sie gerade tat, wo sie war oder mit wem sie wohin zu gehen beabsichtigte.
Oder er gab einfach nur gute Ratschläge, wie sie ihre diversen Alltagsprobleme am besten meisterte.
Kam er abends heim, so bedauerte Agathe regelmäßig, sich tagsüber auf ihr Zusammensein gefreut zu haben. Es gab keinen Willkommenskuß, lediglich ein völlig entkräftetes: "Mensch, bin ich kaputt!", das sich wie eine Anklage anhörte und Agathe selbst dann furchtbar zusetzte, wenn Rüdiger hin und wieder darauf verzichtete, das beinahe schon obligatorische "Hast-du`s-doch-gut-den-ganzen-Tag-frei!" hinzuzufügen. Dieses Scheiß - Privileg, das ihr schon lange auf den Senkel ging, dessen sie sich jedoch nur entledigen konnte, wenn sie Rüdiger in den Wind schoß.
Was sie aber nicht wollte, weil sie ihn dummerweise immer noch liebte.
Hatte Rüdiger sich seiner Geschäftsklamotten entledigt und das Abendessen eingenommen, folgte das, was er einen gemütlichen Feierabend nannte: Man unterhielt sich über Agathes Tagesablauf. Von der telefonischen Berichterstattung her wußte er ja schon, was sie so getrieben hatte.
Jetzt gab Rüdiger seine Kommentare dazu ab. (Was er tagsüber gemacht hatte, stand nicht zur Diskussion. Für Themen, die seinen Job betrafen, war Agathe ihm nicht kompetent genug.)
"Mäuschen, das hätte ich an deiner Stelle aber nicht getan. Oh, oh - hoffentlich können wir diesen Fehler wieder ausbügeln. Na ja - bist eben mein schnuckeliges, kleines Dummerchen."
So ging es den ganzen Abend lang, und an den Wochenenden den lieben langen Tag über. Mäuschen, tu dies nicht. Mäuschen, tu das nicht. Aber Mäuschen, du wirst doch nicht etwa...? Dazwischen bekam Agathe kleine Aufgaben übertragen.
"Bringst du mir ein schönes, kühles Bier?"
"Machst du deinem Männchen noch ein leckeres, belegtes Brot zurecht?"
Und wehe, Agathe spurte nicht sofort, sondern wollte schnell noch ihr eigenes, bereits angebissenes Brot aufessen, bevor sie wieder in die Rolle der unermüdlichen Dienerin schlüpfte. Dann hüpfte Rüdiger wie von der Tarantel gestochen von seinem Sessel hoch und erledigte das, was eigentlich Mäuschens Aufgabe gewesen wäre, mit grimmiger Miene höchstselbst.
Hinterher hatte Mäuschen dann genügend Zeit für die eigenen Belange, weil Rüdiger stunden-, wenn nicht gar tagelang kein Wort mehr sprach mit dem aufsässigen Ding. Eine ganze Woche Stille kam auch schon mal vor, beispielsweise damals, als Mäuschen sich beim Einkaufen heimlich zwei Zigaretten eingezogen hatte und das Mäusemännchen, das dem Weibchen beim Heimkommen sofort auf die Pelle gerückt war, den Rauch in Haar und Kleidung erschnüffelt hatte. Und das, obwohl Rüdiger nichts mehr haßte als Zigaretten und Rauch!
Heimliches Rauchen war nur ein Vergehen von vielen, und im Lauf der Zeit häuften sich die "Schweigetage", wie Agathe Rüdigers Bestrafungsaktionen nannte. Je verbissener sie sich bemühte, nichts verkehrt zu machen, desto mehr fand ihr Mann an dem, was sie tat, auszusetzen, und manchmal glaubte sie, sein süffisantes Grinsen und den mitleidigen Blick nicht mehr ertragen zu können, wenn sie seiner Ansicht nach wieder einmal Mist gebaut hatte. Das arrogante "Bist eben mein kleines Dummerchen" machte sie rasend.
Dann entdeckte Rüdiger eine neue Methode, wie er ihre Seele mit Füßen treten konnte. Er wandelte seinen Lieblingssatz: "Du willst doch nicht, daß ich eines Tages sagen muß, du seist der größte Irrtum meines Lebens gewesen", um in: "Du warst wirklich der größte Irrtum meines Lebens, und nun muß ich bis zu meinem bitteren Ende unter den Folgen leiden", und servierte seinem Mäusi diese Freundlichkeit immer dann, wenn ihm etwas gegen den Strich ging, auf dem Silbertablett. Agathe fragte sich manchmal, ob er seinen Spruch auch dann noch so genüßlich an den Mann bringen würde, wenn er wüßte, wie sehr er sie damit verletzte. Aber vielleicht war es ja gerade das, was er wollte. Mitunter hatte sie beinahe den Eindruck, als würde er sie nur deshalb so niedermachen, weil sein Ego Kraft schöpfte aus ihrer von seinen demütigenden Worten verursachten Niedergeschlagenheit. Im Grunde genommen glaubte sie nämlich gar nicht, dass er wirklich so furchtbar unzufrieden war mit ihr, wie er manchmal behauptete. Sie vermutete vielmehr, dass er sich insgeheim glücklich schätzte, sie eingefangen zu haben. Frauen, die so duldsam waren wie sie, gab es schließlich nicht wie Sand am Meer, und Agathe war überzeugt davon, daß jede andere sich längst aus seiner Umklammerung befreit, ihm einen Fußtritt gegeben und fortan glücklich und zufrieden von dem königlichen Unterhalt gelebt hätte, der ihr zustand.
Zuweilen hatte natürlich auch Agathe schon davon geträumt, ihrem goldenen Käfig zu entfliehen. Einfach alles, was ihr bisheriges Leben ausmachte, zurückzulassen, nur ein paar liebgewordene Habseligkeiten einzupacken und irgendwo, in einer kleinen, billigen Zwei-Zimmer-Wohnung ein neues Leben zu beginnen. Allein und unabhängig.
Frei.
Aber das waren immer nur Träume geblieben, denn so verlockend ihr diese Vorstellung manchmal auch erschien, so brachte sie es einfach nicht über sich, ihren Ehemann wirklich zu verlassen.
Agathe wußte, dass es falsch war, zu bleiben. Sie spürte, wie sie jeden Tag ein Stückchen mehr von sich selbst verlor. Wie sie kleiner und kleiner wurde unter Rüdigers zynischer Arroganz, und wie ihr Wesen sich veränderte.
Früher, als sie noch frei gewesen war, hatte Agathe ihr Leben genossen und sich auf jeden neuen Tag gefreut. Jetzt hatte sie bereits morgens, nach dem Erwachen, den Eindruck, es läge ein Felsbrocken auf ihrer Brust, der sie irgendwann einmal erdrücken würde.
Kein Zweifel: Das Zusammenleben mit Rüdiger bekam ihr nicht.
Dieser Mann machte sie mit der Zeit kaputt, das war Agathe durchaus klar, und sie wußte auch, dass ihr Leben gelaufen war, wenn sie weiterhin bei ihm blieb. Folglich mußte sie ihn verlassen.
Wenn da nur nicht immer noch dieses dumme Gefühl der Zuneigung in ihr gewesen wäre, und der unsinnige Wunsch, dass über Nacht ein Wunder geschehen und aus Rüdiger urplötzlich der liebevolle Ehemann werden würde, den sie sich in langen, schlaflosen Nächten so sehnsüchtig erträumte.
War das zu viel verlangt, ein bißchen Liebe?
Sie wollte ja keinen Märchenprinzen. Und sie war durchaus bereit, einen Mann zu verwöhnen. Aber sie sehnte sich auch nach liebevoller Zuwendung und der Anerkennung als gleichberechtigte Partnerin als Gegenleistung.
War sie egoistisch? Wie ein Verdurstender nach einem Schluck Wasser, so lechzte Agathe nach jedem freundlichen Wort und nach der kleinsten Zärtlichkeit, die Rüdiger ihr, wohl dosiert, zukommen ließ, und wenn sie auch manchmal bittere Tränen weinte, weil es ihr so vorkam, als würde er danach streben, ihre beharrliche Liebe wie ein Elefant mit aller Gewalt in den Boden zu stampfen, so war sie gleichzeitig voller Hoffnung, dass er irgendwann begreifen und akzeptieren würde, daß sie eine eigenständige Persönlichkeit mit eigenen Vorstellungen von der Gestaltung ihres Lebens war und nicht eine Sklavin, auf deren Gefühlen man nach Belieben herumtrampeln konnte.

All diese Gedanken schossen Agathe durch den Kopf, als sie ihr winziges Stückchen halbrohes Fleisch kaute und dabei das Reiskorn beobachtete, das bedenklich an Rüdigers Kinn zitterte.
Mein Gott, er mußte doch spüren, dass etwas nicht so lief, wie es laufen sollte. Ausgerechnet er, der in jeder Lebenslage die Kontrolle behielt, merkte nicht, dass sich da etwas verselbständigt hatte. Jahrelang hatte Rüdiger Agathe gepredigt, dass sie ohne ihn ein zu kläglichem Scheitern verurteiltes Nichts wäre - ein knuddeliges, kleines Dummchen eben -, und sie hatte es widerspruchslos hingenommen.
Nun verspürte sie plötzlich unbändige Lust, ihm das Gegenteil zu beweisen.
Es dem Reiskorn gleich zu tun und sich davon zu machen, bevor er sie endgültig mit Haut und Haaren verschlang.
Die Idee war im Grunde nicht neu.
Neu war nur, daß Agathe plötzlich nicht mehr nur Luftschlösser bauen,sondern ihren geheimen Traum von der Freiheit Wahrheit werden lassen wollte.
Es war eigentlich ganz einfach. Das Reiskorn hatte es ja auch geschafft.
Der Gedanke gefiel ihr wirklich ungemein.
Rüdiger trank einen Schluck Wein, setzte das Glas ab und tupfte sich mit der Serviette distinguiert über die Lippen.
Das Reiskorn fiel eine Etage tiefer und blieb auf der Krawatte haften.
Agathe legte Messer und Gabel parallel nebeneinander auf den nur halb leergegessenen Teller, faltete die Serviette sorgfältig zu einem ordentlichen Rechteck und schob sie unter den Tellerrand.
"Du bist schon fertig?" fragte Rüdiger mit hochgezogenen Augenbrauen. Seine Stimme klang mißbilligend. Agathe wußte, wie sehr es ihn schmerzte, wenn sie so teures Essen zurückgehen ließ.
"Ja", antwortete sie lächelnd. "Ach, Rüdiger, und übrigens - ich lasse mich von dir scheiden."
Seine Augen weiteten sich. Vor Überraschung? Oder Entsetzen, weil sie es wagte, aus heiterem Himmel etwas so Ungeheuerliches zu sagen?
Agathe wußte es nicht. Es war ihr auch egal.
"Weißt du", sagte sie, "mir wurde eben klar, daß du der größte Irrtum meines Lebens warst."
Sie ließ die Worte wie Schokolade auf der Zunge zergehen.
Rüdiger war auf einmal hochrot im Gesicht und zerrte hektisch an seinem Krawattenknoten, als würde er keine Luft mehr bekommen.
Das Reiskorn hielt am unteren Ende der Krawatte tapfer die Stellung.
Agathe kostete die Situation gründlich aus, bevor sie hinzufügte: "Aber ich will nicht bis zu meinem bitteren Ende unter den Folgen dieses Irrtums leiden."
Sie erhob sich und griff nach ihrer Tasche. "Oh...noch etwas, Rüdiger", sagte sie fröhlich, bevor sie in ihr neues Leben entschwand. "Du hast Reis an deiner Krawatte."